Diese Kurzgeschichte entstand im Sommer 2005. Jeden Morgen lief ich an einem Seniorenheim vorbei, in dem auch meine Urgroßmutter ihre letzten Jahre verbracht hatte. An den Fenstern saßen alte Leute und starrten hinaus...
Einsame Frau am Fenster
Müde Augen starren verschwommenen Blickes auf den Asphaltweg, der an ihrer Residenz vorbei führt. Ihre silbernen Locken, die einst blond waren, wehen sanft im Wind, der durch das angekippte Fenster haucht.
Stimmen dringen von der Straße herein. Junge Menschen laufen vorbei. Einige schnellen Schrittes, einige gemächlicher. Manche schleppen schwere Einkaufstaschen und wirken erschöpft. Sie wissen nicht, wie erschöpfend das Leben wirklich sein kann.
Ihre letzte Mitbewohnerin ist erst kürzlich verstorben. Die Nachfolgerin bekommt oft Besuch. Sie hat ihr bisher nichts davon gesagt, dass das nachlassen wird, so wie bei ihr. Die Stille dieses Exils ist bedrückend, nur selten unterbrochen von der gestresst wirkenden Pflegerin, die Medikamente oder das Essen bringt.
Manchmal hat der junge Mann für sie Zeit, der hier seinen Zivildienst leistet. Er ist der Einzige, der wenigstens vorgibt, sich für ihre Erinnerungen zu interessieren. Sie erzählt so gern davon. Manchmal wiederholt sie sich, weil das Alter ihr Gedächtnis trübt. Seine zu leisen Antworten versteht sie nicht immer, aber sie schwelgt weiter in den Erlebnissen von damals. Zwei Kriege hat sie hinter sich, und ein erfülltes Leben.
An manchen Stellen hebt sich dann der Blick des jungen Mannes erstaunt. Ja, sie hat viel erlebt, viele Hindernisse überwunden. Sie hat sich erniedrigt und aufgelehnt, sie musste Schmerzen ertragen und mit Niederlagen umgehen. Sie hat gekämpft, um ihr Leben und das ihrer Kinder. Die Kinder, die sie jetzt kaum noch sieht. Sie hat Leute gesehen, deren Namen nun in den Geschichtsbüchern stehen, und sie kann Dinge über sie erzählen, die nie aufgeschrieben wurden.
Aber niemand hört ihr wirklich zu. In diesen einsamen Stunden überlegt sie oft, warum sie eigentlich gelebt hat. All ihre Erfahrungen sind wertlos, denn sie werden mit ihr sterben. Ihre Kinder sind in der Welt verstreut und streben -jeder für sich- dem gleichen Schicksal entgegen. Warum lebt überhaupt jemand?
Sie fährt sich mit der zitternden Hand über die Stirn, als könne sie diese bedrückenden Gedanken einfach wegwischen. Ihre Finger fahren vorsichtig über die faltige Haut ihres Gesichtes. Niemand kann sich mehr vorstellen, dass sie einst wunderschön war. Nicht einmal sie selbst. Diese blassen Wangen glühten einst voll Scham, als sie ihren ersten Kuss empfingen. Diese traurigen Lippen hatten so oft gelächelt und zärtlich die ihres lieben Mannes berührt. Ihr Mann... die jungen Pärchen da draußen erinnern sie immer an ihre eigene Jugend, als sie glücklich Hand in Hand mit ihm spazieren ging.
Lange ist er nun schon tot. Genau wie die meisten Freunde von damals. Sie fühlt sich wie der letzte Baum eines alten Waldes, der bald gefällt wird, um den jungen Trieben Platz zu machen. Sie könnte so viel lehren, so viele Erfahrungen weiter geben, so wertvoll für die nach ihr Kommenden sein. Aber sie ist eine alte Frau, die von ihrer Umwelt belächelt und kaum noch als Mensch wahrgenommen wird. Sie ist ein längst vergessenes Stück Vergangenheit, das mit einem unergründlichen Blick aus dem Fenster starrt.
Auf dem Asphaltweg läuft ein junger Mann vorbei, der in Richtung ihres Fensters blickt. Zuerst lächelt er sie an, doch sein Gesicht wirkt zunehmend trauriger. Schließlich wendet er sich ab und beschleunigt seinen Gang.
Sie weiß nicht, was in ihm vorgeht. Sie weiß nicht, dass er ein Dichter ist, der über sie nachdenkt. Sie ahnt nicht, wie bewegt er ist und dass er von ihr schreiben wird. Sie sieht die Tränen nicht, die er nur mit größter Anstrengung zurück hält.
Wenn sie all das wüsste - vielleicht würde sie lächeln.
Anmerkung zur Lizenz: Diese Geschichte erschien 2006 in der "Campus Artifex" Ausgabe 06/06, Verlag PaperOne, Titel "Und es leuchtet doch...". Da der Verlag die Ausgabe wieder aus dem Programm genommen hat (Restbestände sind über mich erhältlich), stelle ich sie hiermit unter die Creative Commons BY-NC-SA.
Einsame Frau am Fenster von Stefan Reichelt steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported Lizenz.
hey,bis jetzt sieht es schon sehr schön aus, ich finde es super ,das deine lyrik auf diesem weg nun wieder allen zugänglich ist,alles andere wäre auch verschwendung : D
AntwortenLöschenich freu michs chon auf weitere beiträge :D
auf gutes gelingen :D