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Sonntag, 4. Dezember 2011

Ein Weihnachtswunder

Ja, ich habe auch Weihnachtsgeschichten auf Lager. Und wer naive Kunst nicht mag, sollte hier nicht weiter lesen.
Diese Geschichte entstand wie so viele andere in der Straßenbahn. Es war im Jahr 2006, zu Beginn der Weihnachtszeit. Zufällig saß etwas weiter vorn im Waggon ein ärmlich gekleideter, zerzauster Mann mit einer großen Einkaufstüte. Er wirkte unendlich müde und sank immer wieder in sich zusammen. Als ihm der Kopf auf die Brust fiel, entglitt die Einkaufstüte seinem Griff, und ein grauer Teddybär kullerte heraus auf den nassen, schmutzigen Boden. Er nahm ihn erschrocken wieder an sich, säuberte ihn liebevoll und packte ihn wieder ein. Dieser Moment trieb mir die Tränen in die Augen, und die Geschichte entstand wie von selbst. Ich musste mir das einfach von der Seele schreiben.

Ein Weihnachtswunder

Kennst du den bunten Weihnachtstrubel in der Großstadt? Ich denke, dass jeder ihn einmal erlebt haben sollte. Überall blinken bunte Lichter, ein großer und reich geschmückter Weihnachtsbaum steht auf dem Marktplatz und die Luft ist geschwängert vom Duft vieler Süßigkeiten. Aus jeder Gasse tönt Weihnachtsmusik, die von Kindern oder Straßenmusikern gespielt wird. Alle Leute schauen fröhlich drein. Nein, nur fast alle. Einige Menschen scheinen selbst an diesen glücklichen Feiertagen von schweren Sorgen geplagt zu sein. Ihre Kleider sind schmutzig und zerschlissen. Auf Ihren Knien betteln sie mit beschämtem Blick um etwas Geld oder Essen. Und oft bekommen sie auch etwas, denn zu Weihnachten sind viele Leute etwas freigiebiger als sonst. Aber manchmal genügt das einfach nicht. Manchmal ist es einfach zu kalt, um auf vereisten Parkbänken zu schlafen, und der Kuss des Morpheus wird zum letzten, den sie je verspüren werden. Von einem dieser Menschen möchte ich berichten.

Er war Vater von drei Kindern, einem dreijährigen Jungen – Felix, sein Jüngster – und zwei niedlichen Mädchen im Alter von acht und zehn Jahren. Nur zu Weihnachten durfte er sie sehen. Deshalb war es die einzige Zeit im Jahr, da er fühlte, am Leben zu sein.
Es war nicht seine Schuld, dass er einen Job nach dem anderen verlor, wirklich nicht. Aber seiner Frau war das völlig egal. Er brauchte viel Zeit, sich davon zu erholen, als sie ihn deswegen einfach vor die Tür setzte. Sie hielt ihm vor, ein Versager zu sein, und einen Versager duldete sie nicht als Vater ihrer Kinder. Schweren Herzens nahm er Abschied von ihnen. Irgendwie hatte sie vielleicht Recht. Vielleicht war er wirklich daran schuld, dass er einfach keine Arbeit fand. „Wirtschaftliche Gründe“ klangen für ihn ohnehin immer wie eine Ausrede. Er wusste nicht viel über Wirtschaft. Und dieses Thema war für jemanden, der sich nur noch darum kümmerte, ob er genug Kleingeld für eine Kleinigkeit zu essen zusammen bekam, wirklich nicht wichtig.
Was er wusste, war, dass sein Leben keinen richtigen Sinn mehr hatte. Es gab nur noch einen Grund, überhaupt am Leben zu bleiben: Das Lächeln auf dem Gesicht seines Sohnes - einmal im Jahr, wenn er ihn sehen durfte.
Es war wieder Weihnachten. Das ganze Jahr hindurch hatte er immer wieder ein wenig Geld beiseite gelegt, um ein kleines Geschenk kaufen zu können. Es war nicht einfach, überhaupt ein Geschäft zu finden, aus dem er nicht hinausgeworfen wurde, bevor er auch nur einen kurzen Blick hinein werfen konnte.
Aber dann fand er einen kleinen Spielzeugladen mit einem wundervoll geschmückten Schaufenster. Lange stand er unschlüssig davor. Doch dann öffnete sich die Tür und eine ältere Frau lächelte ihn gutmütig an.
„Kommen Sie doch herein, bei der Kälte!“, sagte sie und machte eine einladende Geste. Ermutigt betrat er den gemütlich warmen Laden und sah sich um.
„Was suchen Sie denn?“, fragte sie höflich und reichte ihm eine Tasse heißen Tee.
„Etwas für meinen Felix. Er ist drei Jahre alt“, antwortete er leise, während er begierig schlürfte und seine kalten Hände aufwärmte. Seine Augen schienen sich ein wenig aufzuhellen, als er den Namen seines Sohnes aussprach.
„Vielleicht ein kleines Plüschtier?“, fragte die alte Verkäuferin, „Darüber freuen sich kleine Kinder immer. Ich hätte da einen ganz besonderen Teddybären für einen ganz besonderen Jungen. Auch für den kleinen Geldbeutel geeignet“
Mit diesen Worten reichte sie ihm einen weichen Teddy mit schwarzen Augen. Genau das richtige für Felix, das spürte er einfach.
Irgendwann musste er den warmen Laden wieder verlassen. Das wenige Geld, das er mitgebracht hatte, hatte wie durch ein Wunder gereicht.
„Passt genau“, hatte die alte Frau mit einem verschmitzten Blick zu ihm gesagt und ihn zur Tür begleitet. Sie winkte ihm sogar noch nach, als er sich auf den langen Weg durchs Schneegestöber bis zur Straßenbahnhaltestelle machte.
Als er einstieg, starrten ihn viele Leute an. Aber das ignorierte er, wie immer. Behutsam nahm er den schmutzigen Beutel, der all sein Hab und Gut enthielt, auf den Schoß und hielt ihn gut fest. Ein leichtes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, als er ab und zu einen Blick hinein warf und das kleine Plüschtier betrachtete.
Immer wieder übermannte ihn die Müdigkeit. Die wärmende Wirkung des Tees ließ schnell nach, und er fror sogar in der beheizten Straßenbahn. Mehrmals entglitt der Beutel seinem schwachen Griff, und der Teddy fiel auf den nassen, dreckigen Boden. Aber jedes Mal hob er das Geschenk behutsam wieder auf, so zärtlich als sei es sein Sohn selbst. Er wischte sorgfältig den Dreck aus dem Fell und steckte ihn wieder ein.
Nach einigen Haltestellen verließ er die Bahn und verschwand in der kalten, eisigen Dunkelheit. Er spürte die Kälte und den Hunger schlimmer denn je, und sein letztes Geld hatte er für ein Weihnachtsgeschenk ausgegeben.
Zurück in den Straßen der Innenstadt, fragte er einige Leute nach Zigaretten, um seine klammen Finger aufzuwärmen, oder etwas Geld, um sich Essen kaufen zu können.
Obwohl er von einem gnädig schauenden Studenten eine lauwarme, angebissene Bratwurst geschenkt bekam, wurde die Kälte immer unerträglicher.
Er begann zu zittern, und jede Schneeflocke in der Luft schien den kürzesten Weg in seine brennenden Augen zu suchen.
Als er sich setzte, begann der Schnee, ihn über und über zu bedecken. Aber er war zu schwach, ihn wegzuwischen. Seine Kraft reichte nur noch aus, um den kleinen Teddy aus dem Beutel zu holen und fest zu umarmen. Dann fühlte er eine unendliche Müdigkeit…

Der Schneesturm war vorbei. Kleine Schneewehen hatten sich am Wegesrand abgelagert. Ein kleiner Junge, ungefähr drei Jahre alt, schlenderte mit seiner Mutter die Straße entlang. Freudig jubelte er auf, als er auf einem großen Schneehaufen einen niedlichen Teddybären fand. Er hatte schwarze Knopfaugen und ein kuschelweiches Fell. Und er sah aus, als sei er geradewegs für ihn gemacht.
„Du bist ein Glückspilz. Ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk!“, lachte seine Mutter, und sie zogen beide weiter.
Was sie nicht sahen – und das war sicher besser so – war der arme Mann, der unter seiner Bettdecke aus Schnee in ewigen Schlaf versunken war. Seine rechte Hand war weit nach oben ausgestreckt, damit ein besonders wertvolles Geschenk nicht unter den Schneemassen begraben wurde. Felix sah seinen Vater nie wieder. Aber der Teddy wurde fortan sein bester Freund.

Glaubst du an Weihnachtswunder?

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Ein Weihnachtswunder von Stefan Reichelt steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.