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Samstag, 17. September 2011

Der edle Ritter und die Tochter des Todes

Hans Christian Andersen ist meine größte Inspirationsquelle und literarisches Idol Nummer eins. Er erhob die Naivität zum Ideal, noch bevor sich Antoine de Saint-Exupéry und James Matthew Barrie (natürlich ebenfalls meisterhaft) diesem Thema widmeten. Für mich ist es zum Lebensmotto geworden, es niemals zu verlernen, die Welt mit Kinderaugen zu betrachten. Unter dem Einfluss von Andersens wundervollen Kunstmärchen schrieb ich (Irgendwann im Winter 2003/2004) auch die folgende Kurzgeschichte.


Der edle Ritter und die Tochter des Todes

Es war einmal in uralten Zeiten, als man vor einer Dame noch den Hut zog und Kämpfe von Angesicht zu Angesicht ausgetragen wurden, ein armer Ritter. All seine Habseligkeiten trug er stets bei sich: Ein zartes Herz, einen wachen Verstand, scharfe Augen und das alte Schwert seines verstorbenen Vaters. Seine Kleidung war ein zerschlissener Waffenrock aus Leder, auf dem er stolz sein Familienwappen trug. Einsam zog er von Land zu Land und nährte sich von den Früchten des Weges. Kam er in ein Dorf, so wurde er freudig aufgenommen, denn sein Herz war rein und sein Handeln voll Güte. So manchen Streit schlichtete er, indem er sich mit blanker Klinge zwischen die Raufbolde stellte und sprach:
"Wollt ihr die Fäuste sprechen lassen, so müsst ihr erst mich überwinden!"
Da wurde jeder Bursche zahm, und die beiden Gegner trugen artig ihr Anliegen vor. Schon bald war er als der friedliche Ritter im ganzen Reich berühmt. Ja, er war wahrlich ein ehrenhafter Ritter, wie er im Buche steht.

Doch er trug stets einen großen Kummer bei sich: Er fand kein Weib, das an seiner Seite leben wollte. Und immer, wenn er Kinder lachen sah oder im Frühling die Liebespaare unter den Lindenbäumen saßen und sich küssten, so wurde ihm das Herz im Leibe unerträglich schwer.
Eines Abends, als er sich mit heimlichen Tränen auf weichem Waldmoos zur Ruhe betten wollte, kam eine kleine schwarze Nachtigall angeflogen und setzte sich ohne Scheu vor seine Füße. Behutsam kniete der junge Rittersmann nieder und gab dem Vogel von seiner Wegzehrung. Dann legte er sich wieder hin und schloss die Augen. Doch die Nachtigall begann, mit heller und klarer Stimme gar wundervolle Lieder zu singen,und dem Ritter war, als bekäme seine Seele Flügel. Und er entglitt in einen sanften Traum.
Mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht flog er über sonnige Landschaften, und um ihn herum schwirrten kleine Engel und Feen, die ihm liebevolle Worte ins Ohr flüsterten. Als er wieder mit den Füßen auf dem Boden stand, erblickte er vor sich eine einzelne, vollkommene Rose, die gerade aus dem Boden wuchs. Ihr Duft raubte ihm den Atem, und er kniete vor ihr nieder.
"Diese Rose ist dein Herz, das vor Liebe überquillt. Und sie ist die Wurzel deiner Qualen. Reiße sie aus, und du wirst ein zufriedenes Leben führen", flüsterte ihm eine dunkle, gesichtslose Stimme ins Ohr.
"Nein! Diese Rose ist so wunderschön... lieber leide ich, bis ich daran zerbreche. Ich will meine Liebe nicht verlieren. Denn ohne sie bin ich doch nur eines von diesen Wesen, die selbst einen Ritter brauchen, der für sie das Herz opfert. Und wehe der Welt, die Ritter braucht und keine hat"
So sprach er und stellte sich schützend vor die Rose, die in ihrer Pracht alles überstrahlte.

Dann schlug er die Augen auf. Der Morgen war angebrochen, und funkelnde Tautropfen hingen von Gräsern und Blättern. Als er den Kopf wendete, erblickte er ein wunderschönes Mädchen mit langem goldenem Haar, und ihre Wangen und Lippen waren Rosen gleich, und ihre Haut war weiß wie poliertes Elfenbein. Schlafend lag sie neben ihm, und er war von ihrem Anblick so verzaubert, dass er wie gebannt auf ihr Erwachen wartete. Als sie ihn dann anblickte, entbrannte er in tiefer Liebe zu ihr. Und unter ihren Küssen tanzte sein Herz im Leibe. Hand in Hand gingen die Beiden ein Stück des Weges,und nun schmerzte es den armen Ritter nicht mehr, wenn er glückliche Liebespaare sah.
Doch es kam der Abend, und mit dem schwindenden Tageslicht verfinsterten sich auch die schönen Gesichtszüge der Maid. Als die Sonne hinter den fernen Bergen verschwunden war, war der Ritter plötzlich wieder allein. Und so wenig wie er wusste woher sie kam, wusste er nun wohin sie gegangen war. Da wurde er noch trauriger als je zuvor. Heiße Tränen netzten sein Gesicht, und so sank er ermattet ins weiche Gras.
Da bemerkte er, dass wieder die Nachtigall auf seiner Schulter saß. Und wie als ob sie seine Trauer bemerkt hätte, hob sie sogleich zu singen an.
Da wurde er unsäglich müde und schlief ein. Wieder träumte er, über sonnige Landschaften zu fliegen und wieder schwebten an seiner Seite viele kleine Engel und Feen, die mit lieblichen Stimmen auf ihn einredeten. Dann stand er wieder vor der wunderschönen Rose, die gerade und einzeln aus dem Boden wuchs. Doch nun hingen ihre Blätter traurig herab, und einige Blütenblätter lagen verwelkt am Boden.
"Siehst du, wie dein Herz stirbt? Spürst du, wie dich jedes zu Boden gefallene Blatt mit unerträglichen Schmerzen quält? Brich die Rose ab, beende dein Leiden!"
Doch wie in der vorigen Nacht beschützte er die zarte Blume.
"Führt mich nur in Versuchung, ihr eisigen Mächte?, rief er trotzig, "mein Herz bekommt ihr nicht!"

Als er am nächsten Morgen wieder erwachte und die Augen öffnete, sah er ein Gesicht über sich, so schön wie der Frühling und so jung wie der Morgentau. Glänzend schwarzes Haar floss vom Haupte des Mädchens über die zarten Schultern, und unter ihrem Lächeln vergaß er alles was bisher geschehen war, vergaß den letzten Tag und verliebte sich unsterblich in das unbekannte Wesen.
Dieser Tag war voller Freuden, noch viel liebevoller als der letzte. Nun hoffte er, endlich das Glück seines Lebens gefunden zu haben. Und er war zufrieden mit sich und der Welt.
Doch der Abend nahte, und in der beginnenden Dämmerung ward ihre zarte Gestalt wie ein Lufthauch.

Wieder war er mutterseelenallein. Wehmut verschnürte eisig seine Kehle, und die Tränen rannen unaufhörlich. Doch er erhob keine Klage gen Himmel, denn sein Schicksal war selbst gewählt. Zu Tode betrübt und ermattet sank er am Fuße eines alten Lindenbaumes nieder und schloss die Augen. Schon bald tauchte die Nachtigall aus der Abenddämmerung auf und sang vor seinen Füßen ein sanftes Lied, das ihn in Morpheus' Reich entführte. So fand er sich in dem alten Rosengarten wieder, in dem die Blume seines Herzens stand. Schrecklich war sie zugerichtet. Auch die letzten Blätter waren zu Boden gefallen, und das blütenlose Köpfchen hing traurig zur Erde hinab. Lange, messerscharfe Dornen ragten nun aus der einst so schönen Blume. Allein ihr Anblick schmerzte den armen Ritter unerträglich. Ihm war als würde sich alles Leid der Welt über ihn ergießen, und in seiner Brust riss es ihn, als wände sich die grausame stachelige Kugel eines Morgensterns darin.
"Siehst du nun, wohin dich der dornige Pfad der Liebe führt?", sprach wieder die Stimme aus dem Nichts. Nun war es eine sanfte, engelsgleiche Stimme, in der unendlicher Kummer schwang.
"Oh du edler Ritter, bitte zieh die unselige Rose aus dem fluchbeladnen Boden! Ich kann dich nicht so leiden sehn!",schluchzte sie.
Da kniete er nieder und sprach feierlich:
"Wer auch immer Ihr sein mögt, und wie groß Euer Mitleid auch sein mag: Ich werde den Pfad der Liebe niemals verlassen. Eher sterbe ich, als dass ich kalt und herzlos werde"
Da landete die Nachtigall vor ihm und sah ihn lange an. Doch er rührte sich nicht mehr und hielt Schildwache vor der todkranken Rose.
"Du bist ein reines Wesen im Geist und Herz, dein Handeln ist eines Engels würdig. Nie sah ich einen Menschen, der den bitteren Kelch der Liebe bis zur Neige leerte und den Versuchungen der Kälte so tapfer widerstand"
So sprach die Nachtigall und verwandelte sich vor den Augen des Ritters in ein Mädchen von unvergleichlicher Schönheit. Ihr Leib war wohl gerundet als sei er Venus selbst nachempfunden. Ihre Haut strahlte weiß wie frisch gefallener Schnee, und ihre schwarzen Haare verhüllten einem Schleier gleich die in jugendlicher Unschuld gezeigte Blöße sorgsam vor den Blicken Unwürdiger. Ihre Wangen waren lieblich gerötet, als habe die rosenfingrige Eos sie sanft geküsst. Die Sonne schien ihr ein prachtvolles Diadem aufs Haupt.
"Wer seid Ihr und womit habe ich es verdient, solche Schönheit blicken zu dürfen?", fragte er voll Bewunderung.
"Mein Vater ist der Tod und meine Mutter die Sehnsucht. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich dich bemerkt, erblickte dein reines Herz und verliebte mich sogleich in dich. Doch mein Vater ist der Herr über alles Lebende, und er ist ein sehr strenger und umsichtiger Regent. Deshalb darf ich erst jetzt vor dich treten, da du die schweren Prüfungen meiner Mutter so weise und tapfer überstanden hast. Doch nun soll all dein Leid vergessen sein"
Mit diesen Worten küsste sie ihn und er entbrannte in tiefster Liebe zu ihr. Da waren keine Schmerzen mehr, und auch die Trauer war verschwunden.
So vermählten sie sich bald und zogen in das uralte Schloss ein, das sich Hades nannte. Und während der Tod seiner undankbaren Arbeit nachging, regierte das Paar fortan über das stille Reich, in dem es niemals Aufruhr gibt und wo die Träume greifbar sind.

Sanft und schwer senkte sich die weiche Schneedecke auf den starren Leib eines einsamen Rittersmannes, der am Fuße einer alten Linde seine letzte Ruhe fand. Und das liebevolle Lächeln in seinem edlen Gesicht blieb noch lange erhalten. In seinen glasigen Augen schimmerte noch ein Nachhall des letzten Traumes, mit dem er in die ewige Geborgenheit entschwebt war.

© by Stefan Reichelt

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